Warum die Transformation der Führung zum denkbar schlechtesten
Zeitpunkt von uns verlangt wird – und warum sie gerade jetzt gelingen kann
Von Patrick Wiederhake (April 2019 – international Update Juli 2019 – zunächst veröffentlicht über www.profil-m.de)
Unter Druck reagieren wir immer noch so wie schon vor 5.000
Jahren. Ist die Situation als relevant und zudem auch noch bedrohlich
eingestuft, werfen wir unser Notprogramm an: Die Muskelspannung steigt, ebenso
der Blutdruck und die Herzfrequenz. Verdauungstätigkeit und Schmerzempfinden
gehen zurück. Alles ist ausgerichtet auf Angriff oder Flucht. Gemeinsam für
beide Optionen: die Fokussierung auf das Wesentliche. Wer um sein Leben kämpft,
neigt nicht zu differenzierten Reflexion, zur Kreativität oder zum Experiment.
Wer um sein Leben kämpft, tut das Naheliegende und das Gelernte. Die
Wahrnehmung ist verengt, konzentriert auf den direkten Weg zum Ziel. Wir
spielen nicht. Wir gehen all-in.
Übertrieben, finden Sie? Sicher. Wir kämpfen nicht um unser
Überleben in den Büros des 21. Jahrhunderts. Und doch, das werden Sie hier
lesen, geht es heute mehr denn je um das moderne Äquivalent von Leben und Tod:
Es geht um unsere gesellschaftliche Existenz, um unsere Zukunft, um unsere
Identität. Es geht darum, wer wir sein können in einer sich radikal
verändernden Welt. Wir fragen uns, ob wir mithalten können, oder zurückfallen.
Ob wir den falschen Weg einschlagen und an der Herausforderung zerbrechen vor
den Augen anderer. Dem Instinkt in uns ist es egal, dass diese Fragen keine physische
Gefahr bezeichnen. Der Körper kennt nur körperliche Reaktionen. Und so zeigt
sich Relevanz noch immer in der Emotion. Angst und Aggression markieren dabei
die gefühlte Bedrohung. Wenn Sie sich umsehen, wenn Sie wirklich hinsehen,
werden Sie diese Emotionen erkennen unter dem geschliffenen, gezähmten und
natürlich immer professionellen Verhalten. Sie werden sehen, wie Menschen
angespannt sind, verunsichert, wie sie überreagieren, zögern oder erstarren.
Wir leben in emotionalen Zeiten.
Woher kommt der Druck?
Druck entsteht, wenn wir unsicher sind, ob wir das haben
werden, was für unser Dasein wichtig ist. Daran zu zweifeln beginnen wir, wenn
folgende Fragen keine klaren Antworten ergeben: Weiß ich, was kommt? Werde ich
es können? Bin ich damit nicht allein? Die fundamentalen Transformationen, die
wir gerade sehen, betreffen genau diese drei Fragen – und zwar sowohl
gesellschaftlich, auf Unternehmensebene – wie für jede/n Einzelne/n:
- Was kommt? Wirtschaftlich droht Europa sich
selbst aufgrund mangelnder Einigkeit immer mehr Steine in den Weg zu legen.
Zugleich geraten wir aus dieser Schwäche heraus immer stärker zwischen die
Fronten eines weltweiten Handelskriegs, in dem wir vom Subjekt zum Objekt zu
werden drohen. In Deutschland haben wir verlernt, aufstrebende Nationen in
ihrem Einfluss auf unseren Wohlstand ernst zu nehmen. Derweil sehen sich die
Unternehmen des Silicon Valley in ihrer technologischen Vormachtstellung von
China bedroht, die amerikanischen Farmer von den Brasilianischen. Russland
kämpft um seinen Status als Wirtschaftsmacht und der Mittlere Osten ist einmal
mehr Quelle politischer Unsicherheiten. Bei all dem sind die nahezu
unvorhersehbaren Folgen des sich nun realisierenden Klimawandels noch
vollkommen außen vor – obwohl sie das Potenzial haben, alle anderen Dynamiken
zu überschatten.
Für
Unternehmen resultieren aus all dem unklare Rahmenbedingungen und ein
schwieriger werdendes Investitionsklima. Führungskräfte und Mitarbeiter/innen
erleben die Unruhe. Gerade hier in Europa ahnen sie, dass die Stabilität der vergangenen
Jahre endlich ist. Niemand weiß, was kommt, aber viele wissen, dass es enger
werden wird. Unsicherheit 1.
- Werden wir es können? Technologisch steht mit
der fortschreitenden Digitalisierung und den Möglichkeiten der künstlichen
Intelligenz sowie durch die Entwicklungen in der Biomedizin und in den
Produktionsverfahren eine Transformation bevor, die unser Arbeiten so stark
verändern wird, wie vermutlich keine zuvor. Etablierte „Ingenieurs-Nationen“
wie Deutschland müssen umdenken, aber auch in allen anderen
Wirtschafts-Nationen wird sich für die meisten Unternehmen der technologisch
erreichte Wettbewerbsvorteil nicht ohne Weiteres auf das digitale Arbeiten
übertragen lassen. Die etablierten Player sind nicht in der Pole-Position. Das
bezweifeln Sie? Dann waren Sie nie in Riga oder in Shenzhen. Unternehmen
bemerken, dass ihre Geschäftsmodelle in ihrer jetzigen Form obsolet zu werden
drohen, die Wertstrom-Ketten nicht mehr wettbewerbsfähig sind und neu gedacht
werden müssen. Viele müssen sich gänzlich neu erfinden. Auf technischer Ebene –
aber auch in ihrer Art zu arbeiten. Werden wir mithalten können? Unsicherheit 2.
- Stehen wir zusammen? Im Sommer 1989 rief Francis
Fukuyama in einem viel beachteten Artikel „das Ende der Geschichte“ aus und
erklärte die soziale Marktwirtschaft auf Basis eines gemeinsamen Wertegerüsts
zum Sieger. Seit diesem Zeitpunkt scheinen sich Kräfte gebündelt zu haben mit
dem einzigen Ziel, das Gegenteil zu beweisen. Der Aufschwung religiös
legitimierter Extremismen, politische Radikalisierung und neuer Wind für eine
Identitätspolitik, die stärker die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen als das gemeinsame Ziel betont – all
das führt zur Vereinzelung, zum Rückzug in den engsten eigenen Kreis. In
Unternehmen sehen wir einen wachsenden Generationenkonflikt, der Respekt vor
dem Geleisteten in Zeiten, die „alles neu“ rufen, ist kein hohes Gut mehr. Wir
kommunizieren freundlicher, haben aber immer mehr die eigene
Selbstverwirklichung im Kopf. Stehen wir wirklich zusammen – als Bevölkerung,
als Unternehmen, als Team? Auf wen kann ich mich verlassen? Unsicherheit 3.
Für Unternehmen – aber auch für jeden Menschen in ihnen –
bedeutet dies Unsicherheit, nicht planbare Veränderungen, Komplexität und
Ambiguität. Dass mit „VUCA“ ein vermeintlich greifbarer Begriff für diesen
Zustand gefunden wurde, verbessert die Situation nur an der Oberfläche.
Begriffe geben Halt, sie machen Dinge „begreifbar“. Am Zustand freilich ändert
sich nichts, denn „VUCA“ bedeutet letztlich immer noch „wir haben echt keine
Ahnung“.
Die Stunde der
Führungs-Kraft?
Das alles klingt nach Krise, und eigentlich ist die Krise
die Zeit der Führung. Im Angesicht der Not kann frei und radikal entschieden
werden, harte Einschnitte sind legitimiert. Hier suchen Menschen Orientierung
und lassen sich leiten. Hier sinken Ansprüche an Integrität und Wohlwollen.
Hauptsache, es klappt. Gesellschaftlich zeigt sich dieser Trend im Aufstieg
autoritär agierender Führungspersönlichkeiten. Und auch im Unternehmen
schwingen sich die Retter auf, das Meer zu teilen. Doch gibt es zwei Gruppen,
die sich aus unterschiedlichen Gründen weigern, in den Krisenmodus zu gehen,
die gerade nicht nach Führung rufen: Es handelt sich um Kunden und Mitarbeitende.
- Kunden leben heute in einem Überangebot von
Produkten und Dienstleistungen. Sie sind es nicht mehr gewohnt, auf Ansprüche
zu verzichten. Schnell findet sich jemand, der es – vermeintlich – besser kann.
Sie geben sich nicht mehr mit dem zufrieden, was man ihnen vorsetzt. Ihre
Ansprüche ändern sich ständig, was den Druck auf Erneuerung und stetige
Verbesserung des Angebots immens erhöht. Kunden erleben keine Krise, sondern
Überfluss.
Die
Führungskraft muss sicherstellen, dass das Tempo der Entwicklung steigt und dass
Wünsche immer schneller integriert und umgesetzt werden. Sie muss sich nach
außen orientieren und kann sich nicht – wie in der Krise eigentlich notwendig –
auf das etablierte Können verlassen.
- Und Mitarbeiter/innen? Wer als Mensch unter 40
eine vernünftige Ausbildung und ein wenig Erfahrung vorweisen kann, steht zumindest
in Europa und Nordamerika gut im Kurs. Kompetenz ist ein knapper werdendes Gut,
was ihren Wert erhöht. Zudem wächst eine Generation heran, die es gewohnt ist,
im Sinne der eigenen Bedürfnisse gefördert zu werden. Sie wollen einen
attraktiven Weg, möglichst ohne große Steine. Gerade junge und kompetente
Menschen haben eine extrem gute Verhandlungsposition, wenn sie einen
attraktiven Arbeitsplatz und eine kontinuierliche Entwicklung fordern. Diese Mitarbeiter/innen
erleben keine Krise, sie sind begehrt.
Die
Führungskraft kann sich folglich nicht mehr darauf verlassen, dass Mitarbeiter/innen
im Zweifel mitziehen werden, um das eigene Fortkommen oder das Fortbestehen des
Unternehmens selber zu sichern. Im Gegenteil: Die Legitimation der Führung wird
grundsätzlich hinterfragt. Führungskräfte, die sich auf diesen Dialog nicht
einlassen, werden schnell als gestrig abgestempelt und verlieren die
Gefolgschaft.
Die Führung selbst ist unter
Druck
Scheinbar suchen trotz des aufziehenden Gewitters weder
Kunden noch Mitarbeitende gerade nach jemandem, der ihnen sagt, was sie zu tun
haben. Die individuell erlebte Wirksamkeit schlägt das Gefühl der grundlegenderen
Erosion. Das macht viele Führungskräfte hilflos. Sie spüren größer werdenden
Druck und wissen oft nicht, wie sie ihn in Vorwärtsschub verwandeln.
Stattdessen sehen sie, dass eine Lösung auf dem Tisch liegt, die von unten in
die Unternehmen kam. Praktiker der Software-Entwicklung schufen das „Agile
Manifest“ – und damit das Schlagwort unserer Zeit. Die Pioniere in Unternehmen
erkannten schnell, dass Agilität als Antwort für Kunden und für Mitarbeitende
dienen kann: Den Forderungen der Kunden (wie auch der Unsicherheit des Marktes)
wird ein ständiges Nachmessen und Anpassen entgegengesetzt, die Richtung wird
häufiger korrigiert und auf kurvigem Kurs so besser gehalten. Zugleich wird
allen im Team suggeriert, dass in der losen Struktur eine Chance liegt, sich
selbst ständig zu entwickeln. Agilität kennt keine an ihrem Stuhl klebenden
Chefs.
Und die Führung: In dieser Situation, in der die Welt um uns
herum ins Wanken gerät und in der die Mittel der Führung auch von innen heraus
begrenzt zu sein scheinen, wird erwartet und propagiert, dass Führung mit der
unwahrscheinlichsten Reaktion antwortet, die unter Druck zu erwarten wäre: loslassen
und vertrauen.
Die Transformation der Arbeitswelt besteht im Wesentlichen
daraus, einen bedeutenden Teil der Führung von der Person in die Kultur und in
die (agilen) Prozesse zu verlagern. Führung wird dabei entmachtet, aber nicht
entlastet. Die Machtbasis der Führung über die Hierarchie, den Wissens- und
Erfahrungsvorsprung oder über die Möglichkeit, Belohnungen zu verteilen, gerät
ins Wanken. Hierarchien werden abgebaut, Erfahrungswissen gilt als unmodern,
und Belohnungen erhält im Bestfall nun die ganze Gruppe. Zugleich wird Führung
immer noch gesucht. Doch nunmehr eher als Stütze und Ermöglicher. Sie wird
gesucht im großen Sinn, in der Vision, dem Warum, aber eben auch in der Person,
die diesen Sinn vermitteln kann und bei Unsicherheit verlässlich unterstützt. Die
Herausforderung, die sich gerade für erfahrene Führungskräfte daraus ergibt,
ist kaum zu überschätzen. Die Fähigkeit, Halt zu geben, ohne zu bevormunden, zu
erklären, ohne mundtot zu machen, und zu unterstützen, ohne Freiraum
einzuschränken, ist ohnehin schon schwierig zu erlernen. All dies aber auch
noch in einem Zustand des Drucks zu tun, der sich aus einer unsicheren Zukunft
und einem ins Wanken geratenen Selbstverständnis ergeben mag, scheint kaum leistbar.
Das so wichtige Gefühl der Kontrolle geht verloren. Das macht vielen
Führungskräften Angst, auch wenn sie es nicht sagen. Und Angst verstellt den
Blick nach vorn. So sind es bei dieser Revolution der Arbeit oft die oben, die nicht
loslassen können.
Warum jetzt?
Wenn es die Führung selbst ist, die in ihrer Existenz
bedroht zu seien scheint, ist von ihr nicht zwingend eine Lösung zu erwarten. Warum
kann dennoch gerade jetzt eine grundlegende Transformation des Führungsbilds
gelingen? Drei Gründe sprechen dafür:
- Weil die beschriebenen
Veränderungen um uns herum so grundsätzlich und groß und unumkehrbar wirken,
dass ausreichend Veränderungsdruck entsteht, trotz allen Widerstands die Krise
der Führung anzuerkennen – und sich der Herausforderung zu stellen, eine neue
Art der Führung zu entwickeln.
- Weil auf der
anderen Seite eine Vision am Horizont erscheint, in der all das angespannte
Wettbewerben in einer politisch durchdrungenen hierarchischen Organisation, die
mit der Weitergabe von Druck über die Ebenen hinweg arbeitet, nicht sein muss.
Weil ein realistisches Zukunftsbild entsteht, in dem Führung mit den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern arbeitet und nicht gegen sie.
- Weil wir als
Führungskräfte ohnehin nie die Kontrolle hatten, die wir glauben, haben zu
müssen. Ohne Führung entsteht keine Zukunft. Und Selbststeuerung ist eine
Kernkompetenz für jede Art von VUCA-Welt. Doch ist die Bedeutung des Einzelnen
auf den Gesamterfolg nicht – und war vermutlich auch nie – so groß, wie uns die
Heldengeschichten das erzählen. Führungserfolg entsteht, wenn andere mitmachen.
Das lässt sich beeinflussen, aber nicht erzwingen. Wenn die Folgenden mehr in
den Fokus rücken und wenn dadurch die Erkenntnis reift, eben nicht alles selbst
tragen zu müssen, kann dies die Führung grundsätzlich befreien, kann ihr Raum
geben und sie in ihrem Potenzial beflügeln.
Ein Zukunftsbild, in dem Führung vorn steht, aber eben nicht
mehr oben – das kann motivierend wirken für alle, die es schaffen, loszulassen
und sich selbst dabei neu zu entdecken. Die immense Energie, welche die
Relevanz und Bedrohlichkeit der Lage auszulösen vermag, verstellt nur oft den
Blick dafür. Um die Emotion, die aus dem Druck entstammt, zu nutzen und zu
kanalisieren, um Not zu wandeln in Aufbruch und Offenheit braucht es Ideen und
klare erste Schritte. Gerade Führungskräfte benötigen also Halt und Führung.
Sie müssen lernen dürfen, ihre Rolle in einem veränderten Umfeld erfolgreich zu
füllen. Sie müssen experimentieren dürfen, Fehler machen und sich irren. Sie
müssen das Gefühl bekommen, dass ihre Bereitschaft, in Führung zu gehen, immer
noch oder gerade jetzt gefragt ist, um Ideen zu verwirklichen. Erst wenn ein
gangbarer Weg erkennbar wird, auf dem Führung sich verändern kann, ohne das
Gesicht zu verlieren – erst wenn die Nöte der Führungskräfte ernst genommen und
adressiert werden, erst dann können wir tatsächlich ein neues Bild der Führung
schaffen. Dann wird es möglich, dass wir die Angst beruhigen und im Moment des
größten Drucks beginnen, uns aufeinander zu verlassen.
Praxis-Epilog: Was ist zu
tun?
Die Führungskultur in einem Unternehmen verändert man nur im
Zusammenspiel vieler Ebenen – und das braucht Zeit und Konsequenz. Als einzelne
Führungskraft benötigen Sie gegebenenfalls sofort einen Plan. Machen Sie also
schon einmal für sich selbst einen Schritt in die Zukunft der Führung – und
tragen so zur Transformation Ihres Unternehmens bei. Vielleicht nutzen Ihnen
dazu die folgenden Schritte:
- Die Sauerstoffmaske:
Helfen Sie erst sich, kümmern Sie sich dann um
Mitreisende. Was in jedem Sicherheits-Briefing auf der Langstrecke schon oft
gehört wurde, gilt auch für den Führungsalltag. Sie werden unter Druck nicht
besser agieren, wenn Sie dabei vor die Hunde gehen. Sie müssen sich nicht
opfern. Bei Angriff oder Flucht lenkt unserer Körper den Blick weg vom eigenen
Befinden. Wir sollen ignorieren, wie es uns geht – damit wir überleben können.
Als Führungskraft ist Druck in der Regel allerdings kein Zustand von fünf
Minuten. Er dauert an und damit der Alarm. Sie müssen ihn ausschalten,
zumindest temporär. Sie müssen für sich sorgen.
Also: Schlafen Sie ausreichend. Essen Sie gesund.
Bewegen Sie sich. Und machen Sie dabei niemals länger als zwei Tage lang
irgendwelche Kompromisse.
Versuchen Sie bei Gelegenheit mal ein einfaches
Experiment: Geben Sie einem Kollegen das eine Ende einer Schnur oder eines
gerollten Papiers in die Hand, und halten Sie das andere fest bei sich.
Beginnen Sie nun, an Ihrem Ende zu ziehen, und beobachten Sie, was passiert. In
der Regel wird Ihr Gegenüber, insbesondere wenn es sich um einen
wettbewerbsorientierten Mitstreiter handelt, den Druck ebenfalls erhöhen – und
ehe Sie sich versehen, befinden Sie sich in einem veritablen Tauziehen. Das
Gleiche ist zu beobachten, wenn Menschen unter Anspannung stehen. Sie erhöhen
den Druck und fangen an, sich noch mehr anzustrengen und darauf zu fokussieren,
das eigene Ende nicht aus den Händen gleiten zu lassen – sie machen mehr
desselben, um die Kontrolle zu behalten. Kaum jemand kommt auf die einfachste
Idee, das kräftezehrende Spiel zumindest zu unterbrechen, wenn nicht gar zu
beenden: Kaum jemand lässt einfach los.
Sie werden als Führungskraft nicht in der Lage
sein, sich vor dem Hintergrund der anstehenden Herausforderungen neu zu
orientieren, wenn Sie gleichzeitig mit voller Kraft in die altbekannte Richtung
arbeiten. Sie müssen erst „Stopp!“ sagen. Unterliegen Sie nicht der Versuchung
die neuen Anforderungen einfach „on top“ auf Ihre To-Do Liste zu schreiben.
Fragen Sie sich, was Sie bewusst nicht mehr tun. Sie müssen erst loslassen –
zumindest für einen Moment – und sich eine Insel schaffen, in der Sie
nachdenken können und in der der Kompass sich neu ausrichten darf.
Wir alle sind in unserem Verhalten auf der Basis
unserer Erfahrung trainiert. Alles, was wir denken, alles, was wir tun, hat
sich für uns bewährt, darum tun wir es. Das Dumme ist nur, dass sich das, was
einmal funktioniert hat, nicht mehr zu bewähren scheint, wenn sich die
Rahmenbedingungen verändern. Das kann bedeuten, dass wir erwachsen geworden
sind. Das kann aber auch bedeuten, dass sich die Welt um uns herum verändert.
Nun geht es nicht darum, die eigene Persönlichkeit komplett zu verändern, aber
wir müssen lernen, unser Verhalten einzuordnen und zu erkennen, welchen Mustern
es unterliegt. Nur dann schaffen wir die Basis für eine echte Entwicklung, für
eine echte Veränderung.
Reflektieren Sie als Führungskraft, wie Sie sich
verhalten. Fragen Sie andere, in welchen Situationen sie welche Muster bei
Ihnen erkennen. Schaffen Sie sich Raum, um Ihre Gedanken zu beobachten,
insbesondere unter Druck und Anspannung. Achtsame Führung ist angezeigt. Also: Seien
Sie ehrlich zu sich selbst. Erfolg haben auch Menschen, die sich selbst
belügen. Zufriedenheit nicht.
Wir alle haben unsere ganz eigene Richtung, in die
es uns zieht. Jeder Führungskraft sind auf persönlicher Ebene ganz andere Dinge
wichtig in ihrer Rolle. Vereinfacht können wir vier Grundorientierungen
unterscheiden, die sich im Denken und Handeln manifestieren und die sich im
Alltag in unterschiedlichen Führungsstilen zeigen:
- Es gibt Führungskräfte, die vor allem darauf
hinarbeiten, Klarheit und Dauerhaftigkeit herzustellen. Das sind
Führungskräfte, die berechenbar sind, Orientierung über die Eindeutigkeit und
Beständigkeit ihrer Positionen liefern, die ihren Bereich sauber aufstellen und
im Griff haben.
- Auf der anderen Seite gibt es Führungskräfte, die
genau diese Stabilität als Herausforderung zum Rebellieren begreifen. Die, die
ständig hinterfragen, selbst Funktionierendes verändern und sich immer wieder
neu erfinden wollen. Führungskräfte, die permanent „Aufbruch“ rufen.
- Wir sehen Führungskräfte, die sich dann lebendig
fühlen, wenn es darum geht, zu gewinnen. Sie gefallen sich darin, sich
abzugrenzen und Dinge besser zu machen als ihr Gegenüber, sie suchen den
Unterschied und wollen sich abheben.
- Und zuletzt sind da die, die den Ausgleich und
das Miteinander anstreben, die Gemeinsamkeiten erforschen und am liebsten in
ihrem Team aufgehen und gar nicht mehr als Führungskraft erkennbar sein
möchten.
Jeder dieser hier sehr vereinfacht dargestellten
Grundorientierung können Stärken zugeordnet werden, die sich im bisherigen
Arbeitsumfeld bewährt haben. Erfolgreiche Führungskräfte haben ihre
Orientierung in Verhalten übersetzt, das im eigenen Umfeld funktioniert. Doch
auch für die großartigste Führungskraft gilt, dass das Verhalten, welches in
der Vergangenheit erfolgreich war, in Zukunft nicht mehr zwingend gefragt ist.
Wenn die Umwelt sich ändert, ändert sich auch das Muster des Erfolgs.
Für Sie als Führungskraft bedeutet dies nun nicht,
dass Sie Ihre Persönlichkeit verändern sollen. Das ginge ohnehin nur in
begrenztem Maß. Sehr wohl können Sie jedoch entscheiden, wie Sie Ihre
Orientierung und Persönlichkeit leben. Und genau das ist die vielleicht größte
Herausforderung in einer Transformation: sich diese neue Welt zu eigen machen.
Erkennen, was ist, und entscheiden, wie Sie ganz persönlich damit umgehen
werden. Allgemeingültige Antworten gibt es für diese Herausforderung nicht,
sondern nur eine ganze Reihe komplizierter Fragen:
- Was heißt Halt, Prinzipientreue und Klarheit und
Beständigkeit in einer sich wandelnden Umgebung?
- Wie können sich Veränderung und Rebellion,
Aufbruch und ständige Neuerung mit einem ohnehin schon von außen kommenden
Aufbruchs- und Veränderungsdruck vertragen? Wie rebelliert man gegen Rebellion?
Oder wie kann man sich mit ihr verbünden?
- Was bedeuten Wettbewerb und Abgrenzung in einem
Umfeld, in dem das Kollektiv wieder stärker im Fokus steht und in der jeder
Anflug von Narzissmus gleich als aus der Zeit gefallen und ewig gestrig
wahrgenommen wird?
- Und wie kann man im Team aufgehen und eine
gemeinsame Identität loben, trotzdem aber da sein als Führungskraft in einer
Zeit, in der auch die Mitarbeiter Unsicherheit verspüren und unter Druck
geraten?
Stellen Sie sich diese Fragen, und erwarten Sie
nicht, eindeutige Antworten zu finden – Widersprüchlichkeiten auszuhalten ist
ja gerade ein Kennzeichen der heutigen Arbeitswelt. Auch hierbei gilt: Sie
müssen nicht allein durch diesen Prozess. Suchen Sie sich Personen, mit denen
Sie offen darüber sprechen können, wie das, was Ihnen wichtig ist, in eine neue
Zeit übersetzt werden kann. Arbeiten Sie mit einem Coach. Diese
Übersetzungsleistung der eigenen Motivation, diese Transformation des eigenen
Handelns in ein neues Umfeld ist zwingend notwendig, wenn Sie andere in die
Zukunft führen wollen.
Die Kraft eines Ziels entsteht über das mit dem
Ziel verbundene Gefühl. Wir versuchen, dieses Gefühl herzustellen, und suchen
uns Aufgaben und Rollen, die dazu die Möglichkeit bieten. Attraktive Ziele sind
die, die uns das Gefühl verheißen, nach dem wir uns sehnen. Und ja, genau darin
liegt die Basis jeder Art von Sucht.
Nun wird sich Führung in Zukunft anders anfühlen.
Wenn ich Führungskraft wurde, weil dies den Nachweis meines Erfolgs bedeutete,
welcher mir so wichtig ist, wenn ich Führungskraft wurde, um bestimmen zu
können und mich so mithilfe anderer zu verwirklichen – dann werde ich neue
Ziele brauchen. Erfolg ist nicht mehr synonym mit einer disziplinarischen
Führungsrolle, und Macht liegt längst nicht mehr nur im Organigramm.
Wir selbst sprechen daher auch eher von Leadership
– für das sich kaum ein deutscher Begriff finden lässt. Nicht die Funktion, die
man hat, sondern der Effekt, den man erzielt, verschafft das Gefühl.
Fragen Sie sich, wer Sie als Führungskraft sein
wollen und was Leadership für Sie bedeutet. Fragen Sie sich genau, welche
Effekte Sie in Ihrer Rolle erzielen können und wollen. Und fragen Sie sich, wie
ein motivierendes und sinnstiftendes Zielbild aussehen kann, das Ihnen und
anderen das „Warum?“ Ihres Tuns beantwortet. Führung erhält in Unternehmen eine
neue Identität, ein neues Angesicht. Sie ist verteilter, indirekter und nicht
mehr ans Organigramm gebunden. Sie inkludiert mehr, inspiriert und ermöglicht,
statt selbst alle Antworten zu geben. In diesen Rollen müssen Sie sich sehen,
mit dieser Identität müssen Sie sich anfreunden. Hierin müssen Sie ein Gefühl
entdecken, für das es sich aufzustehen lohnt.